Heimat – Exil – Diaspora. Jüdische Zugehörigkeitserfahrungen und -reflexionen

Heimat – Exil – Diaspora. Jüdische Zugehörigkeitserfahrungen und -reflexionen

Organisatoren
Jüdisches Museum Westfalen
Ort
Dorsten
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.03.2012 - 28.03.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Reichling, Essen

Mit einer Fachtagung hat das Jüdische Museum Westfalen Ende März Teile seiner Recherchen zum Thema „Heimatkunde. Juden – Nachbarn – Westfalen“ öffentlich zur Diskussion gestellt. Diese Arbeit wird Anfang 2014 in eine Sonderausstellung münden. Die Tagung wurde von mehr als 40 Interessierten aus Geschichtsvereinen, Stadtarchiven, Gedenkstätten und Forschung sowie von Mitgliedern jüdischer Kulturvereine besucht.

In seiner Einführung verdeutlichte NORBERT REICHLING (Dorsten) die Kontexte der Veranstaltung: Als jüdisches Regionalmuseum – hervorgegangen aus einer Geschichtswerkstatt – habe das Dorstener Museum (JMW) den selbstgesetzten Auftrag, die Vielfalt jüdischer Existenzweisen in der gesamten Dauer jüdischen Lebens zu präsentieren. Das Klima des „Nachrufs“ auf die deutsch-jüdische Geschichte, wie es in den 1980er-Jahren verständlich gewesen sei, sei gewichen. Die erstarkten jüdischen Gemeinden seien nunmehr in der Lage, die Gegenwart jüdischer Traditionen auch selbst zu vermitteln – die Aufgabe, deutsch-jüdische Geschichte zu umreißen, bleibe primär den Museen. Anliegen des Projekts „Heimatkunde“ sei eine neue Blickrichtung auf jüdisch-nichtjüdische Nachbarschaft und ihr Zerbrechen im 19. und 20. Jahrhundert. Aus heutiger Warte könne darauf keine teleologische Perspektive mehr eingenommen werden – weder der Staat Israel noch die Schoah seien notwendige Konsequenzen der gescheiterten Symbiose, sondern eine Vielfalt von Positionen zum Thema Heimat, Heimatrecht, Heimatliebe, Heimatverlust und Heimweh, mehrere Heimaten müssen anerkannt werden, bis hin zu den spannungsreichen Selbstverständnissen der Einwanderer der letzten 20 Jahre. Auf diese Themen könne man, informiert durch Sozial-, Alltags-, Kultur- und Geschlechtergeschichte, nun erneut und anders schauen, als es vor 30 Jahren möglich war.

Mit einem Einleitungsvortrag von REINHARD RÜRUP (Berlin) wurde die Bedeutung des lange vernachlässigten Themas „Land- und Dorfjudentum“ umrissen. Dabei plädierte Rürup für die Berücksichtigung ländlicher Räume einschließlich der Landstädte. Juden geraten dabei als Akteure und Unterworfene der Modernisierung in den Blick; ihre Historiografie habe in der Regel die Stadt als „natürlichen Standort“ der Juden angesehen, das Landjudentum hingegen als „absterbende Restbevölkerung“. Die dramatischen Veränderungen der Ökonomie erlaubten im 19. Jahrhundert erstmals die Herausbildung einer breiten jüdischen Mittelschicht und schließlich in der Weimarer Zeit auch eines jüdischen Bürgertums, das dominant für die Selbstrepräsentationen werden konnte. In dörflichen Kontexten waren die jüdischen Minderheiten auch Motor von Individualisierungsprozessen; doch verbietet sich, so Rürup, eine Analyse, die nicht auch die gewaltigen Auswanderungsschübe mitwürdige, deren individuelle Erfolge zugleich den Niedergang des Landjudentums mitbedeuten.

ARNO HERZIG (Hamburg) knüpfte mit seinem Beitrag über die Akkulturation der Juden in Westfalen und die innerjüdischen Debatten dazu bei den verbreiteten Urteilen über die „trefenen Juden Westfalens“ an, wie aus orthodoxem Blickwinkel die sehr liberalen Tendenzen in Westfalen polemisch resümiert wurden. Eine spät und schwach entwickelte Judenheit in dieser Region war in der Tat mit einer Vielzahl liberaler Reformer konfrontiert – Rabbinern, Stiftern und Lehrern, die „die Juden in Harmonie mit ihrer Umgebung setzen“ wollten. Der Erneuerungsschub durch das „Königreich Westfalen“ mag dafür eine Rolle gespielt haben. Herausragend bleibe dennoch das Ausmaß der Bemühungen um „Amalgamierung“ (A. Haindorf), die auch stark auf den jüdischen Lehrern beruhte – ein Vorgang nicht ohne Ambivalenzen, wie in einem wehmütigen Diktum Jakob Loewenbergs über das „verwässerte Leitartikel-Deutsch“ der modernen Rabbiner im Kontrast zu den „alten Gebeten“ aufschien.

Auch der jüdische Patriotismus war in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen; er wurde am Beispiel der Kriege 1870/71 und 1914-1918 vorgestellt, und zwar von CHRISTINE G. KRÜGER (Freiburg). Sie suchte die Unverrückbarkeit und die Spezifik der jüdischen Vaterlandsliebe zu erklären aus der Mühsal der Assimilation: Ein kulturelles Nation-Verständnis, wie es allmählich diskutabel wurde, und die Rolle des Nationalismus als Teilhabe-Versprechen auch für Juden waren unter Umständen noch nicht ausreichend; doch die schon von Gabriel Riesser beschworene „Taufe des Bluts“ im Verteidigungskampf der Kriege habe ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugt, das bis in die späten 1930er-Jahre anhielt. Genauer zu prüfen bleibe, inwieweit jüdische Exponenten liberalere, kulturell „weichere“ und kosmopolitischere Patriotismuskonzepte formulierten als andere.

Das Forschungsteam des JMW gab sodann erste Einblicke in seine Forschungsergebnisse über Juden in westfälischen Vereinen und Nachbarschaften sowie über biografische Recherchen im sogenannten Spielberg-Archiv. Gerade der Fokus auf dem Nahbereich zeigt eine unvermutete Intensität des Miteinanders – etwa am Beispiel der Schützen- und anderer Vereine, ebenso der organisierten Nachbarschaften, in die jüdische Mitbürger und Nachbarn mancherorts wie selbstverständlich einbezogen waren, während anderorts Aufnahmeverweigerungen und Reglementierungen in den Statuten der konfessionell geprägten Vereine oder Auseinandersetzungen bis zu Handgreiflichkeiten zu beobachten sind. Hier lässt sich unter anderem exemplarisch nachvollziehen, wie weit die „Konfessionalisierung“ und Kulturalisierung des Judentums auch in den Dorf- und Kleinstadtgesellschaften ging. Lebensgeschichtliche Äußerungen sind dabei selbstverständlich genau zu ihrem Entstehungszeitpunkt und -kontext zu befragen, als Deutungsvarianten des Heimatverlusts aber hochrelevant.

Am zweiten Tag lag der Akzent der Diskussion auf den Erfahrungen von Exil und Emigration im 20. Jahrhundert, auch der Rückkehr nach Deutschland nach 1945. Wie deutsche Juden diese Verluste von Orten und Regionen in ihren Erinnerungen verarbeiteten, zeigte IRIS NÖLLE-HORNKAMP (Dorsten) auf. Heimat als Kindheits- und Jugendland und als Projektionsfläche für Harmonie spielt in diesen Quellen eine große Rolle, wobei die Schrecken der Zeit unmittelbar vor dem Exil zumeist im Vordergrund stehen. Wut, Verklärung und Ausklammern seien einige der Reaktionsweisen, die zu beobachten sind – unter anderem in der Memoiren-Sammlung des LBI New York. Auch mit einer eventuellen Rückkehr und einer deutlichen, z.B. beruflichen Anerkennung kann die Traumatisierung nicht als gebannt gelten – „das Misstrauen bleibt“.

Darin war sich Nölle-Hornkamp mit CORDULA LISSNER (Köln) einig, die über jüdische Rückkehrer/innen nach NRW referierte. Die alltäglichen Diffamierungen der wenigen Zurückgekehrten seien mit der Position jüdischer Verbände einher gegangen, dass jüdisches Leben in Deutschland unstatthaft geworden sei; hier eine andere Stellung einzunehmen, erforderte großen Mut. Juden als „die anderen“ blieben so vorherrschende Topoi auch gutmeinender politischer Rede. Die meisten Remigranten tasteten sich an das Hierbleiben mit kleinen Schritten eines befristeten Aufenthalts heran – kein Zufall wohl, dass es fast keine fotografischen Zeugnisse dieser tastenden Versuche gibt.

Dass die Themen der kleinen Konferenz nicht erschöpfend sein konnten, zum Beispiel die Weimarer Zeit und die Gegenwart weitgehend ausklammerten, wurde schnell deutlich. Vorträge und Diskussionen skizzierten aber plausibel die vor dem Projekt „Heimatkunde“ liegenden regionalgeschichtlichen Aufgaben. Gebrochene Heimatbilder und „hybride Identitäten“ sind nach dem Zivilisationsbruch und den übrigen Katastrophen des 20. Jahrhunderts keine intellektuellen Privilegien mehr, sondern massenhafte Prägungen jüdischer Europäer. Und die erkennbaren Forschungsdesiderate im Bereich des Landjudentums zeigen, dass es für Regionalforschung weiterhin – auf einem neuen Niveau – genug zu tun gibt.

Das Spannungsverhältnis zwischen der Wärmemetapher „Heimat“ und einer (im ländlichen Raum) zu Niedergang und Katastrophe sich neigenden Entwicklungslinie auszuloten und publikumsorientiert aufzubereiten, auch der Versuchung zu einem romantisierenden Versöhnungsnarrativ zu widerstehen, wird eine Herausforderung darstellen. Die Beiträge der Tagung werden Ende 2013 in einem Begleitkatalog zur geplanten Ausstellung publiziert.

Konferenzübersicht:

Norbert Reichling: Einführung

Reinhard Rürup (Berlin): Landjudentum in den Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts

Arno Herzig (Hamburg): Jüdische Sichtweisen auf die Akkulturation – am Beispiel Westfalen

Christine G. Krüger (Freiburg): „Mein Vaterland! Wie's mich durchschauert ...“ Jüdischer Patriotismus im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Elisabeth Schulte-Huxel, Iris Nölle-Hornkamp, Thomas Ridder (Dorsten): Aus der Werkstatt des Projekts „Heimatkunde“: Juden als Nachbarn – Juden in westfälischen Vereinen – Biografische Recherchen im Visual History Archive

Iris Nölle-Hornkamp (Dorsten): „Es liegt zuviel Sentimentalität in dem Wort Heimat“. Manifestationen von Heimatverlust in den Erinnerungen westfälischer Juden im Exil

Cordula Lissner (Köln): Heimkehr in die Fremde. Heimaterfahrungen jüdischer Remigranten in Nordrhein-Westfalen

Kurzführung durch die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Westfalen (Thomas Ridder, Norbert Reichling)

Abschlussdiskussion und Ausblick


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